18. September 2018

Gedanken zum Handwerk: Der Doktor und der Meister

Liebe Jonges, lieber Baas,

 

als ich im Jahr 1959 am Lessing-Gymnasium in Mannheim das Abitur be- standen hatte, hielt ich mich für einen klugen Jungen. Ich komme aus ei- ner Familie ohne akademischen Hintergrund und war wohl der erste mit diesem Abschluss.

Da damals nur fünf Prozent eines Jahrgangs das Abitur machte, waren wir Absolventen sicher, dass wir schlaue Burschen waren.

 

Welch ein Irrtum!

Denn unmittelbar danach, ereignete sich ein wahres Wunder. Die Intelli- genz bei jungen Leuten nahm dramatisch zu. Es vollzog sich eine regel- rechte Intelligenz-Explosion, die bis heute anhält. Denn inzwischen ma- chen nicht mehr fünf Prozent eines Jahrgangs das Abitur, sondern knapp sechzig Prozent. Eine solche Intelligenz-Evolution hat es in der Geschichte noch nicht gegeben.

 

Aber nicht nur die Zahl der Abiturienten ist das Wunder, nein, auch die Qualität der Absolventen hat sich auf wunderbare Weise erhöht. Von den einhundertzwanzig Abiturienten meines Gymnasiums hatte es kein einzi- ger zu einem sogenannten Einserabitur geschafft. Heute sind es mehr als zehn Prozent der Absolventen eines Gymnasiums, die diese Traumnote schaffen.

 

Die deutsche Politik kann ihr Glück nicht fassen und arbeitet seither mit großem Einsatz daran, dass auch die restlichen vierzig Prozent noch das Abitur machen. Erstaunlich, dass besonders Sozialdemokraten sich dafür einsetzen. Sie sind offenkundig davon überzeugt, dass junge Menschen ohne Abitur ihr Ziel verfehlt haben. Und konsequenterweise müssen für diese zahlreichen Abiturienten dann auch Studienplätze bereit- und Pro- fessoren eingestellt werden, denn erst der akademische Abschluss macht den richtigen Menschen.

 

Am weitesten fortgeschritten ist diese Haltung in Italien. Deshalb wird in Italien jeder, der auch nur irgendeinen Abschluss an einer Hochschule ge- macht hat, sofort "dottore" und "dottoressa" gerufen. Wir in Deutschland sind auf dem Weg dahin.

Das alles ist leider keine Satire.

 

Dieser Zug, ja fast Zwang zur Akademisierung unserer Jugend ist eine der schlimmsten Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft. Unausrottbar ist die Meinung, dass nur ein Studium und ein Hochschulabschluss das ge- wünschte höhere Ansehen bringt. Der Drang zu den Universitäten und Fachhochschulen wird immer stärker. Und die höheren Schulen tun auch alles, um möglichst viele dahin zu bringen.

 

Wo soll das nur hinführen?

 

Ich will keinen studierten Volkswirt, der mir das Dach deckt, und schon gar keinen Doktor der Philosophie, der mir die Fliesen im Bad verlegt.

Natürlich hat der Drang zur Universität auch damit zu tun, dass dort der zur Zeit größte Heiratsmarkt stattfindet, und dass die klugen jungen Frauen und Männer das natürlich bedenken. Und die Kinder dieser studier- ten jungen Leute, was machen die wohl, wenn sie das Abitur haben? Rich- tig, sie studieren!

 

Und kein Ende in Sicht - wie Campino so schön singt.

 

Was treibt diese jungen Leute an? Die sind ja nicht alle verrückt geworden.

Offenbar wird mit dem Studienabschluss nach wie vor ein höheres Anse- hen verbunden. Wahrscheinlich, weil man dann nicht mehr mit den Hän- den arbeiten muss, um sein Brot zu verdienen. Das ist eine tiefsitzende Einstellung, entstanden in der Antike, als Handarbeit nur die Sklaven ver- richteten. Sie hält sich im Mittelalter, wo Bauern und Handwerker die hö- heren Stände versorgten.

 

Es gibt eine alteuropäische Minderschätzung der Handarbeit. Aber erst in unserer Epoche wird diese Minderschätzung zum gesellschaftlichen Groß- problem. Denn die augenblickliche Massenflucht weg von der Handarbeit, auch von der hochqualifizierten Handarbeit, gefährdet die Grundlagen der Wirtschaft und unserer Gesellschaft.

 

Irgendwie sind wir selber Schuld an dieser Entwicklung. Denn natürlich hat es kein Intelligenzwunder bei den jungen Leuten gegeben, sondern ein politisch gewolltes massives Absenken des Leistungs-Niveaus - und damit einen Riesenbetrug an den jungen Leuten - und an uns. Selber schuld – denn wir wählen jene Politiker, die diesen Betrug inszenieren.

 

Deshalb nervt es mich auch, auf den Meisterfeiern oder in Zeitungsinter- views die Verbeugungen der Politik vor dem Handwerk zu hören, weil ich sehe, dass dieselben Politiker die Akademisierung der Jugend vorantreiben und das als Erfolg von Bildungspolitik ausgeben. Und das führt inzwischen zu einer unglaublichen Zahl: in Deutschland werden pro Jahr rund 20.000 Meistertitel vergeben, dafür aber 30.000 Doktortitel. Da läuft etwas ge- waltig schief.

 

Ein guter Hauptschüler, der vor dreißig Jahren noch dankbar und stolz auf eine gute Lehrstelle im Handwerk war, macht heute natürlich das Abitur und hat für das Handwerk nur freundliche Verachtung.

 

Dabei ist das deutsche Handwerk ein Kernstück der deutschen Identität. Ja, der deutschen Identität. Übrigens ist das eine gute Antwort, wenn wie- der einmal jemand süffisant nachfragt - meist in Talkshows im Fernsehen!

 

-, was denn an Deutschland so besonders sei. Darauf kann man getrost erwidern, dass es nicht nur die Jahrtausendgestalten Beethoven und Goe- the sind, die zur deutschen Identität gehören, sondern ebenso jene Hand- werks-Tugenden wie "Erfindergeist, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit der Weitergabe des Könnens."

 

Dazu passt eine Beobachtung, die ich vor wenigen Monaten in Berkeley in Kalifornien machte. Vor dem Nachbargrundstück meines dort lebenden Sohnes tauchte ein Werkstattwagen eines Installateurs auf. Mit großen Lettern bemalt: "Plumbing", also Installation, darunter ebenso groß: "Ger- man Meister". Ein Ehrentitel offenbar, vor allem aber eine unschlagbare Werbung. Das sagt mehr als viele Worte.

 

Wenn ich nun beobachte, welche Anstrengungen das deutsche Handwerk, die Kammern und die Innungen, unternehmen, um in der Öffentlichkeit und bei den jungen Leuten eine höhere Wertschätzung zu bewirken, dann bin ich verblüfft, dass sich der Akademisierungs-Trend nicht umkehrt.

 

Das Marketing für das Image des Handwerks könnte nicht besser sein. Die Großplakate sind klug, witzig und bringen die richtige Botschaft. Die Meis- terfeiern stellen jede akademische Abschlussveranstaltung in den Schat- ten. In den sozialen Netzwerken gibt es gutgemachte Videos, wo junge Leute verschiedene Handwerksberufe erkunden und dem Publikum mittei- len, wie cool das alles ist.

 

Auch ist die große Querschnittstechnologie unserer Zeit, die Digitalisie- rung, längst beim Handwerk angekommen und prägt es teilweise, so dass kein junger Mensch Sorge haben muss, in einem rückständigen Bereich zu arbeiten.

 

Das trägt zu einem merkwürdigen Befund bei: das öffentliche Ansehen des deutschen Handwerks ist erstaunlich hoch – im Augenblick so hoch, wie das öffentliche Ansehen der Banken niedrig ist.

Und doch gewinnen die Handwerksberufe nicht die Menschen, die sie eigentlich wollen.

 

 

Der Förderpreis, den die Jonges heute und in Zukunft vergeben, setzt an dieser Stelle an. Er ist keine Lösung des Problems. Aber er ist ein Beitrag, dem Großtrend zur Akademisierung etwas Gleichwertiges gegenüberzu- stellen.

 

Er ist von dem Wunsch und der Hoffnung getragen, dass es Wirkung ha- ben möge, wenn eine gesellschaftlich neutrale Stelle, eine große Bürger- vereinigung, ihre Wertschätzung des Handwerks zum Ausdruck bringt. Zu- dem hat ein solcher Förderpreis den Charme, dass er ein konkretes Bei- spiel, einen richtigen Menschen vorzeigt, heute den Stuckateurmeister David Reingen.

 

Die Jonges können ein wenig stolz darauf sein, dass sie mit diesem Preis sichtbar machen, dass der akademische Doktor und der Handwerks-

 

Meister von gleichem Wert sind - und beide die gleiche Achtung verdie- nen.

Ich danke Ihnen.

 

Von Gert Kaiser