Düsseldorfs „Milljö"
Als Peter König, der Inhaber der Füchschen-Brauerei, 2001 Prinz Karneval der Landeshauptstadt war, erzählte er in den Sälen von frühen Kindheitserinnerungen, die oft fröhlich waren, aber auch mal gruselig sein konnten. Sein Kinderzimmer lag zur Ritterstraße und wenn sich die tollen Tage ihrem Ende zuneigten, konnte es sein, dass er abends im Bett lag und dumpfe Trommelklänge zu hören waren. Dann war da auch noch ein Sarg, der durch die Straßen getragen wurde, was die Szenerie noch gespenstischer machte. Peter fragte ängstlich nach und die Mama erklärte, dass Hoppeditz' Beerdigung anstehe und damit erst mal Schluss mit lustig sei bis zum 11.11., dem nächsten Hoppeditz- Erwachen.
Also Kostüme in die Kisten. Und doch wieder nicht. Für manche hört das Winterbrauchtum nicht wirklich auf, denn nach der Session ist vor der Session. Karnevalswagen sind zu bauen, Jacques Tilly und sein Team werkeln ganzjährig für den Rosenmontagszug. Andere schneidern, dichten, spielen, komponieren. Eine Legende der Karnevalsmusik war Hans Heinrichs, der , Troubadour vom Rhein". Er entlockte über Jahrzehnte seinem Akkordeon närrische Melodien und wirkte, wie es im Lexikon des Comitee Düsseldorfer Carneval heißt, bei Sitzungen oft als , Eisbrecher", animierte das jecke Volk zum Mit - singen und Schunkeln. Er sei auch häufig in Kreisen, in denen das Geld nicht so locker sitzt, ohne Gage aufgetreten.
Einer seiner größten Hits besingt das „Düsseldorfer Milljö". Wie das geht? Das Lied verknüpft Orte und Feste, die einerseits typisch Düsseldorf und andererseits rheinisch-katholisch sind: „Zwischen Schlossturm und Lambätes, zwischen Karneval und Määtes, zwischen Uerije und Kö, ja, dat is Düsseldorfs Milljö", heißt es da, und der ganze Saal schmettert die Verse mit und manchmal auch die halbe Kö und der ganze Uerige. Das ist immer noch so, denn natürlich ist das Lied mit der eingängigen Melodie auch auf so manchem Wagen beim „Zoch" zu hören.
Das Düsseldorfer Milieu ist also, wenn wir der Musik gewordenen Lebenserfahrung von Hans Heinrichs folgen, besonders gut zwischen Schlossturm und St. Lambertus zu besichtigen. Gemeint ist aber damit die ganze Altstadt, schließlich liegt der Uerige nicht zwischen Schlossturm und Lambertus, sondern ein paar Meter entfernt, von der Kö ganz zu schweigen. Die war lange am Rand und, bevor sie entstand, verlief dort die Festungsanlage der noch kleinen Stadt.
„Zwischen Karneval und Määtes" meint den Festkalender mit öffentlichen Feiern oder Umzügen, der von den jecken Tagen bis St. Martin reicht, also bis auf die Advents - und Weihnachtswochen die meiste Zeit des Jahres umfasst. St. Martin ist mit den vielen Umzügen in der Stadt schönstes Winterbrauchtum - und was in der Liedzeile ohne direkte Erwähnung eingeschlossen ist, ist das Sommerbrauchtum. Denn was liegt zwischen Karneval und Määtes? Die Monate mit den vielen Schützenfesten und Paraden sowie der großen Rheinkirmes. Klarer Fall: Für Düsseldorfer Kinder, für viele Erwachsene auch, gibt es vermutlich nicht viel Schöneres als die Festsensationen Karneval und Kirmes.
Was St. Lambertus angeht: Die berühmte Kirche mit dem verdrehten Turm beziehungsweise ein Vorläuferbau war schon Zentrum des Dorfs an der Düssel, als es die Stadt noch gar nicht gab. Mit der Stadterhebung 1288 erfolgte auch die Beförderung zur Stiftskirche und damit kamen Reliquien und Geld in die junge Residenzstadt. Das Katholische hat die Stadt über Jahrhunderte dominiert. Erst in der Regierungszeit des so geliebten wie verschwenderischen Kurfürsten Jan Wellem (bis 1716), dessen Reiterstandbild vor dem Rathaus steht, wurden in der Stadt die ersten protestantischen Gotteshäuser errichtet. Dies allerdings nicht in prominenter Lage vorne an der Straße, sondern ein bisschen zurückgesetzt: die Kirche an der Berger Straße und die Neanderkirche an der Bolker Straße. Die jüdische Gemeinde durfte an der Neusser Straße ihre erste Synagoge errichten.
„Heute durchmischen sich die Milieus oder man sucht sich sein Milieu aus, etwa weil es zur Tradition gehört oder von Familie und Freunden gepflegt wird", sagt Benedikt Mauer, der Leiter des Stadtarchivs, „aber lange waren die Milieus voneinander getrennt." Die Eliten hatten mit dem Arbeitermilieu wenig bis keine Berührungspunkte, ebenso die Künstler. Diese Milieus bildeten sich auch erst im 19. Jahrhundert, als Düsseldorf rasant wuchs und sich stark veränderte, so richtig aus.
Die Stadt hatte 1840 lediglich 25.000 Einwohner, 1875 waren es 80.000 und 1885 schon 115.000. Nur 20 Jahre später zählte die Stadt dann 253.000 Menschen. Vieles, was heute zur Düsseldorfer Identität gehört, prägte sich in dieser Zeit aus. Die Arbeiter der Stahlwerke blieben oft in ihren Stadtteilen, etwa Flingern oder Oberbilk, wo die Fabriken standen, sie hatten dort ihre Trink-hallen, Festsäle und Schützenplätze. Manches lebt fort, die KG Hötter Jonges etwa gäbe es ohne die Gerresheimer Glashütte nicht. Für manche ist da Düsseldorf mehr bei sich als im strahlenden Kern.
Als die Preußen im 19. Jahrhundert das Rheinland regierten, hätten die Katholiken lange mit Argusaugen hingeschaut, wie immer mehr Protestanten in die Stadt zogen und sich etablierten, sagt Mauer. Die Johanneskirche, selbstbewusst am Martin-Luther-Platz erbaut, ist stolzes Zeugnis dieses Prozesses. Das Erbe dieses Mit - und Gegeneinanders blieb lange wirkungsmächtig. Mischehen zwischen Katholiken und Protestanten waren verpönt. Daran kann sich sogar noch Peter König, Jahrgang 1967, erinnern. Der Vater war katholisch, die Mutter evangelisch. Der evangelisch getaufte Peter und seine Schwester durften sich unfeine Dinge anhören, wenn sie an der katholischen Begegnungsstätte an der Ritterstraße vorbeigingen.
Der Karneval überwand auch Grenzen. Den Preußen war er ein Dorn im Auge, deswegen musste beim Feiern, das den Rheinländern nicht auszutreiben war, Ordnung geschaffen werden. Dafür sorgte das CC, daneben gab es rauschende Feste. Der Künstlerverein Malkasten mischte da schon im 19. Jahrhundert mit. Der aktive Karnevalist Andreas Achenbach, Künstler, Professor und später Ehrenbürger, hat jecke Größen seiner Zeit 1843 gezeichnet. In der Akademie hieß es „Hoch die Tassen" und dass später bedeutende Künstler wie Gerhard Richter und Günther Uecker beim Wagenbau für den Rosenmontagszug dabei waren, ist verbürgt. Uecker gestaltete auch einen Künstlerorden für die Prinzengarde Blau-Weiss, ebenso taten das Tony Cragg, Imi Knoebel, Katharina Sieverding, Markus Lüpertz und Heinz Mack - um nur einige zu nennen.
Milieu - oder Klassengrenzen werden im Närrischen aufgehoben. Jasmin Grande, Leiterin des Zentrums für Rheinlandforschung an der Heinrich-Heine-Universität, sieht eine Kraft des Milieus auch darin, Orte zu transformieren. Sie komme selbst aus dem Norden und sei vom Karneval total fasziniert. Sie sei die ganze Zeit durch die Straßen getanzt, berichtet sie von ihren ersten jecken Erfahrungen. Für Jacques Tilly ist das tische Düsseldorfer Milieu in der Wagenbauhalle anzutreffen. Viele Vereine bauen ihre Wagen selbst, ganze Familien machen mit, es ist ein munteres und sehr geselliges Treiben in der Halle. Tillys Team wird um Rat gefragt, auf den Gängen steht Kuchen zur Selbstbedienung, in der Kantine verbringt man gemeinsam vergnügliche Stunden. „Ich habe dort noch nie Streit gehabt", sagt Tilly.
Der Baas der Düsseldorfer Jonges, Wolfgang Rolshoven, ist qua Amt ein Heimatspezialist. Sein erstes Bier hat er im Kreuzherreneck an der Ratinger Straße für 35 Pfennige getrunken. Schräg gegenüber auf der „Retematäng" (die Ratinger Straße gibt es seit 1384), wo sich heute ein Neubaukomplex befindet, ging es in den alten Schlösser-Saal. Dort saßen der junge Wolfgang und seine Kumpel auf dem legendären Donnerbalken und zechten. Rolshoven ist überzeugt, dass die Jonges die Düsseldorfer Milieus vereinen, weil hier jeder Mitglied sein kann, vom Arbeiter bis zum Firmenchef. Zur Frauenfrage schweigen wir hier mal.
Am besten erleben aber könne man das „Düsseldorfer Milljö" in den Hausbrauereien, sagt Rolshoven. Dafür stehen heute in der Altstadt die Namen Uerige, Schumacher, Füchschen, Schlüssel und Kürzer, aber es waren einmal viel mehr. Manfred Dresen nennt in seinem Buch über das Brauwesen im alten Düsseldorf für 1826 sage und schreibe 75 Brauereien und 100 Branntweinbrenner. 1895 waren die Betriebe größer, es gab aber „nur" noch 30 Brauereien. Das Bier hatte weniger Alkohol als heute und wurde auch deswegen viel getrunken, weil es durch den Brauprozess keimarm oder gar sauber war. Das Brunnenwasser konnte dagegen schadhaft sein.
Die Atmosphäre in den Hausbrauereien ist einmalig, die raue Herzlichkeit ist für Neuzugänge zuweilen eine Herausforderung. Im besungenen Uerige hat auch schon mal der Bundespräsident kein Bier mehr bekommen, weil er zu spät kam und das letzte Fass schon leer war. Vor dem Köbes sind halt alle gleich. Deswegen ist die Integrationskraft so groß. Dort fühlte sich Helmut Markwort als Redakteur des Düsseldorfer Mittag in den Sechzigerjahren sehr wohl, es habe dort das gutbürgerliche Publikum verkehrt, „prächtige Leute" erinnerte er sich später. Campino schrieb vor der Jahrtausendwende ins Gästebuch „Uerige + DTH = Düsseldorf"
Und die Kö, ist die auch „Düsseldorfs Milljö"? Für die Kinder, die alljährlich bei Akki im Südpark das Düsseldörfchen bauen, wird die zentrale Budenzasse immer wieder zur Kö und da gibt es natürlich auch Juweliere. So lernen schon die Kleinen was über Düsseldorfs berühmteste Straße Dass diese mit Ansschank, Cafés und Clubs mal viel bunter und lebendiger war, steht auf einem anderen Blatt. Da gab es sogar Etablissements wie das Tabaris, das nach dem Vorbild des Pariser Lido für anrüchige Unterhaltung sorgte. „In den Schaukästen sollen die bloßen Brüste der Darstellerinnen auf den Fotos tagsüber ständig ab - und in der Nacht wieder aufgedeckt worden sein", schreibt Thomas Bernhardt in seinem Bändchen über das „Amüsemang" in Düsseldorf.
Sind die Düsseldorfer wie die Kö? Nicht nur für den Chef des Stadtarchivs ist dort viel Besuch aus dem Umland auszumachen und die erste Reaktion des Jonges-Baas' auf die Frage nach dem typischen Düsseldorfer Milieu lautet „garantiert nicht schickimicki". Sagen wir mal so: Es gibt Klischees und auf der anderen Seite auch Selbststilisierungen. Der Düsseldorfer Jan Bonny entwirft in seiner Netflix-Serie „King of Stonks" einen großmäuligen Manager, der nur zu Saitta geht, wenn die Terrasse geöffnet ist, weil er dann so schön gesehen wird. Auf der anderen Seite heißt die Kö ja nur so, weil die Düsseldorfer dort Pferdeäpfel auf den ungeliebten preußischen König geworfen haben sollen. An diese Geschichte bringen die Historiker jedoch Fragezeichen an. Und der Ur-Düsseldorfer Schneider Wibbel, der den Kaiser Napoleon belei-digt, ist sogar lediglich eine literarische Erfindung.
Das Widerständische und den eigenen Kopf pflegen die Düsseldorfer aber allemal gerne, nicht umsonst singen die Fortuna-Fans: „Wir sind Düsseldorf, super Düsseldorf, keiner mag uns, sch egal." Lore Lorentz sprach von Klischees auf beiden Seiten und stellte in einer Betrachtung über Düsseldorf und die Düsseldorfer eine gewisse gesunde Lockerheit heraus. Hier könne man wieder ein Altbier verlangen, während sich die feine Gesellschaft in Schwabing oder Stuttgart immer noch am Sektglas festhalte. Und während man anderswo wortreich erkläre, mit dem Porsche schneller in der Werft oder bei der Sitzung in Grünwald zu sein, genüge hier als Grund, es mache Spaß.
Der Grafikdesigner Ulrich Otte sagt in seiner Liebeserklärung an Düsseldorf ganz wunderbar: „..und die Vorurteile? Schickimicki-Stadt! Was soll es, wenn es denn stimmt? Vielleicht kommen ja deswegen so viele Menschen in die Stadt am Rhein, weil sie auch mal so sein wollen, wie sie meinen, dass wir so wären.
Das Düsseldorfer Milieu lässt sich in der Altstadt am besten in den Hausbrauereien erfahren: Uerige Berger Straße 1, Füchschen Ratinger Straße 28, Im goldenen Kessel (Schumacher) Bolkerstraße 44, Zum Schlüssel Bolkerstraße 41-47, Kürzer Kurze Straße 20. Ebenso urig: das Kabüffke vom Killepitsch an der Flinger Straße 1. Flair haben viele weitere Kneipen, auch an der Ratinger Straße oder am Burgplatz Der goldene Ring. Historisch relevant ist das En de Canon an der Zollstraße, inzwischen ein schickes Restaurant. Hier soll schon
Kurfürst Jan Wellem gezecht haben.
Touren
Düsseldorf Tourismus bietet auf seiner Homepage die Altbier - Safari durch die Hausbrauereien an (mit fünf Glas Altbier) und Brauereiführung (120 Minuten, 31,50 Euro). Es gibt auch eine 90-minütige Altstadt-Tour, bei der Tablets gestellt werden, auf denen mit Elementen von Augmented Reality die Altstadt -Geschichte durch Bilder und Videos veranschaulicht wird (25 Euro).